Was ist Krebs? Eine Inszenierung von Welt? Nicht der Erkrankte inszeniert eine Krankheit, er ist Teil der Inszenierung "Krankheit". Was sagt diese Inszenierung über die bevorzugten Orientierungen in "unserer" Gesellschaft aus? Welche (Macht-)Verhältnisse werden bestätigt und welche in Frage gestellt? Was ist die Funktion dieser Inszenierung und wo finden sich Parallelen zu anderen gesellschaftlichen Bereichen wie z.B. Architektur, Verkehr, Sitzverhalten, Pornografie, Fernsehen, Internet etc. Ist Krankheit eine medialisierte Erscheinung? Was vermittelt sich mit Krankheit? Heute etwas anderes als vor 200 Jahren? Ähneln die Phänomene von Krankheit denen, die die Apparatewelt hervorbringt? Sind die Apparate Teil der Krankheit oder ist Krankheit längst Teil der Apparate? An welchen Stellen produziert die Inszenierung Krebs welche Ergebnisse und welche Vorstellungen? Wie kann man Krebs produktiv nutzen? Welche Methoden können hier brauchbar sein?
Unter systematischer Feldüberdeckung versteht man das Zusammenstellen allen Wissens bzw. aller Materialien, die einer möglichst klar eingegrenzten Problemstellung als Stützpunkte dienen können, um damit neue Tatsachen aufzudecken, neue Probleme zu formulieren, neue Materialien und Methoden zu erfinden (⇒ vgl. Zwicky 1971).
Um aus dem Phänomen Krebs heraus Erfindungen zu machen, liegt es daher nahe, möglichst alle zum Thema hervorgebrachten Materialien zusammenzustellen und auf ihre Relevanz hin zu überprüfen. Die kaum überschaubare Zahl an Materialien zum Thema Krebs erschwert dieses Vorgehen. In der vorliegenden Arbeit sind einige uns wesentlich erscheinende Fundstücke ausgewählt, die jedes für sich einen umfangreichen Bereich von ähnlichen Aussagen zum Thema repräsentieren, sich an vielen Stellen widersprechen und an oft unerwarteten Stellen übereinstimmen. Diese Fundstücke sollen hier nicht wissenschaftlich betrachtet und allgemeinen Wahrheitskriterien unterworfen werden. Sie sollen vielmehr in einem Experiment konfrontiert werden, das sogenannte wissenschaftliche, künstlerische, philosophische und profane Methoden kombiniert und neue Methoden zu entwickeln versucht.
Den meisten gefundenen Aussagen zu Erscheinungsformen und Ursachen von Krebs sowie zu den empfohlenen Umgehensweisen mit Krebs scheint die Motivation zugrunde zu liegen, mit vermeintlichem Wissen über die Krankheit bestimmte Weltsichten/Ideologien zu bestätigen oder durchzusetzen wollen. Auffällig häufig scheint eine systematische Auseinandersetzung mit dem Phänomen oder ein Hilfsangebot für Erkrankte - wenn überhaupt - eine untergeordnete Rolle zu spielen. Nicht selten bestimmt eine Gegnerschaft der einzelnen Standpunkte und Ideologien die Art und Weise der Wort- und Bildwahl, was sich auch im Ringen um die jeweilige Anhängerschaft bzw. Kundschaft zeigt. Das Spielfeld Krebs ist auch in sofern interessant, da selbst die Frage, ob es sich um Krankheit handelt, umstritten ist. Allein einige Vorgänge auf zellulärer Ebene scheinen unumstritten. Ansonsten stehen sich unvereinbare Positionen gegenüber:
Susan Sontag appelliert an das vernunft-begabte Menschsein und sieht in Wilhelm Reichs "Psychlogisierungen" ein zu bekämpfendes Übel (⇒ "Krankheit"). Reich selbst kämpfte gegen die fortschreitende Unterdrückung sexueller und sozialer Bedürfnisse und wurde so zum Gegner nazideutscher, norwegischer und zuletzt us-amerikanischer Staatsapparate (⇒ "Wilhelm Reich"). Matthias Rath macht sich zum Alleinvertreter der Naturheilkunde und zum David im Kampf gegen den Goliath Pharmaindustrie (⇒ "Pharmaindustrie"). Diese wiederum verspricht das heile Leben durch die Zufuhr des richtigen Stoffes und bekämpft alles hartnäckig, was die daraus entstehenden Abhängigkeiten der Menschen verringert oder zu ungunsten der Pharmaindustrie verschiebt (⇒ "Pharmaindustrie"). Die Presse kämpft gegen die "Schönmalerei" der Pharmawerbung und um den Erhalt des Schreckens, den das Thema Krebs auslöst, um damit Auflagenhöhen und Einschaltquoten zu sichern (⇒ "Spektakel"). Und dann tummeln sich da noch diverse andere Anbieter auf dem Krebsmarkt und machen zum Beispiel den Rückgang der Fähigkeit des Dienens für die hohen Krebsraten verantwortlich (⇒ "Bruno Werner"). Unterdessen erforscht/erfindet die Medizin immer neue Spezialgebiete und Krebsformen und liefert damit gleichzeitig ihre eigene Existenzberechtigung (⇒ "Medizin").
Jedes technische Instrument hat Anteile eines Werkzeugs und Anteile eines Mediums. In der Bedeutung des jeweiligen Anteils unterscheiden sich diese Instrumente. Ein Werkzeug zeichnet sich dadurch aus, dass das, was mit ihm gemacht wird, von diesem zu trennen ist. Beim Medium ist das Erzeugte vom Erzeugenden durchdrungen und ohne dieses nicht existent. Ein Instrument, dass in erster Linie Medium ist, wird Apparat genannt.
Inwieweit verschiedene Apparate ein neues Medium bilden und ob der Mensch als Teil dieses Mediums zu betrachten ist, muss an anderer Stelle erörtert werden. Hilfreich für diese Auseinandersetzung könnte jedoch die folgende Betrachtung sein.
Jahrhunderte lang fand Krankheit im lebendigen Körper statt. Der Körper war Medium der Krankheit. Krankheit war eine Erscheinung, die ganz vom Körper durchdrungen war und ohne diesen nicht existieren konnte. Mit der Apparatemedizin wurde Krankheit zum Erzeugnis der medizinischen Apparate. Sie fand nun nicht mehr allein im Körper statt. Der Körper wurde zum Teil eines neuen Mediums, dass die medizinischen Apparate, Ärzte, Krankenhäuser, Medikamente etc. einschloss.
Krankheit scheint dadurch immer weniger auf den menschlichen Körper angewiesen zu sein. Den menschlichen Körper durch ein Fortschreiten dieser Entwicklung ganz von dieser Form von Krankheit zu trennen und sie allein der Medizin zu überlassen, scheitert jedoch an anderer Stelle: Je weniger der Mensch Träger von Krankheit war, desto mehr wurde er Konsument von Krankheit und parallel dazu auch zum Konsumenten von Gesundheit.
Einführung ∨
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Versuch einer systematischen Feldüberdeckung
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Medizin und Medientheorie
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